2. Eine brandneue Pokémon-Welt

Iwata:

Mr. Sugimori, was haben Sie sonst noch gedacht, als Sie Mr. Masudas „Richtlinienrede“ gehört haben?

Sugimori:

Ich war natürlich ein wenig unwillig, aber ich habe auch auf seinen Instinkt vertraut.

Iwata:

Weil Sie beide schon sehr lange zusammenarbeiten, nicht wahr?

Sugimori:

Ja. Es ist meine Aufgabe, die Zügel wieder anzuziehen, wenn die Dinge ausufern und die Grenzen der Pokémon-Serie zu sprengen drohen.

Iwata:

Selbst als Sie Ihre gewohnten Methoden für die Spielerstellung samt der geltenden Regeln über Bord werfen mussten, war es an Ihnen, das Ganze so anzupassen, dass das Ergebnis sich immer noch wie ein Pokémon-Spiel anfühlte.

Sugimori:

Genau. Aber selbst wenn die Richtlinienrede vielleicht ein bisschen übers Ziel hinausschießt, kann ich immer die Bremsen an der richtigen Stelle ansetzen. Ich bremse immer mit entsprechender Stärke, daher ist das Endergebnis umso andersartiger, je stärker wir starten. Je höher die Hürde, umso höher kann man auch springen.

Iwata:

Das ist eine interessante Analogie.

Ishihara:

Das Planungsblatt für die Richtlinienrede umfasste dieses Mal ca. 200 Seiten und enthielt eine gründliche Erläuterung für jedes einzelne Spielelement. Beispielsweise wurde detailliert erklärt, was es bedeutet, eine Brücke zu überqueren, und wie die Teilnahme am Spiel eines anderen Spielers ablaufen sollte.

Iwata:

Haben Sie auch für die Rede zu „Diamant“ und „Perl“ so viele Seiten geschrieben?

Masuda:

Nein, das war das erste Mal.

Iwata:

Diesmal gab es jede Menge neue Herausforderungen, daher gab es auch mehr zu erklären.

Iwata Asks
Masuda:

Genau.

Ishihara:

Wenn wir also sagen, dass es sich um ein völlig neues Spiel handelt ...

Iwata:

... meinen Sie, dass es einen hohen Grad an Innovation aufweist.

Ishihara:

Sogar die Entwicklungs- und Erstellungsmethode war völlig neu.

Iwata:

Und während es nichts Neues ist, dass jedes neue Spiel auch mit einer brandneuen Region ausgestattet wird, hat sich dieses Mal die gesamte Atmosphäre stark verändert.

Iwata Asks
Masuda:

Ja. Die Umgebung wurde in Anlehnung an New York modelliert.

Iwata:

Sie haben Japan endlich verlassen ...

Masuda:

Wir sind endlich nach Übersee gegangen! (lacht)

Iwata:

Warum stand New York Modell?

Masuda:

Hauptsächlich deswegen, weil ich wirklich eine Veränderung wollte. Außerdem habe ich vor ein paar Jahren ja einmal meine Musik arrangieren und im Zuge von Pokémon-Konzerten aufführen lassen.99 Pokémon-Konzerte: Zur Feier des zehnten Pokémon-Jubiläums wurden 2006 „Pokémon-Geburtstagskonzerte“ an vier Orten in Japan aufgeführt. Die Musik wurde vom Komponisten Shigeaki Saegusa arrangiert.

Iwata:

Sie sind nicht nur der Regisseur des Spiels, sondern auch der Komponist, nicht wahr?

Masuda:

Ja. Es gab Konzerte in den Regionen Kanto (Kanto), Kansai (Johto), Kiushu (Hoenn) und der Präfektur von Hokkaido (Sinnoh) in Japan; diese Regionen sollten die Regionen der Pokémon-Spiele symbolisieren. Und als ich darüber nachdachte, wo ich gerne ein weiteres Konzert geben würde, wenn sich die Möglichkeit je noch einmal ergäbe, kam mir New York in den Sinn, denn dort gibt es viele berühmte Musical- und Opernbühnen. Aber das wäre ja viel zu kompliziert gewesen – schon allein das Ausfliegen der Musiker und Instrumente in die USA! Daher kam es nie dazu.

Iwata:

Die Idee, das Spiel in einen Ort wie New York zu versetzen, entstand also aus Ihrer Idee für einen Konzertschauplatz?

Masuda:

Ja. (lacht) Aus irgendeinem Grund fiel mir New York ein, und es schien mir ein angemessener Nachfolger für Sinnoh, rein bildlich.

Iwata:

Zuerst haben Sie also entschieden, die Umgebung auf New York aufzubauen. Was kam als Nächstes?

Masuda:

Wir entschieden uns für die Umgebung und dann haben wir grob festgelegt, wo die Städte liegen sollten. Dazu bin ich extra ins MoMA10 in New York gegangen. 10 MoMA: Das Museum of Modern Art in New York City beherbergt eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst.

Iwata:

Ins Museum of Modern Art.

Masuda:

Genau. Ich saß auf einem Stuhl im Hof und wälzte Ideen. Da kam mir plötzlich das Bild eines Sechsecks in den Sinn. Und das erinnerte mich wiederum an Honigwaben und Bienenstöcke. Da dachte ich, dass es interessant wäre, das Äquivalent von Manhattan ins Zentrum zu setzen und dann auf beiden Seiten Stadt- und Naturbereiche in einer Reihe von Sechsecken anzulegen. Zudem war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass manche Kinder die Spiele nicht abschließen konnten; das galt es zu verbessern. Dieses Mal wollten wir sicherstellen, dass eine direktere Route durch das Hauptabenteuer zur Verfügung steht als zuvor.

Iwata Asks
Iwata:

Das Abschließen der Geschichte ist Teil der eigentlichen Spielfreude eines Pokémon-Spiels, also sollten möglichst viele Spieler das Spiel auch von Anfang bis Ende genießen können, nicht wahr?

Masuda:

Genau. Manche würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Spielspaß erst beginnt, nachdem man die Geschichte abgeschlossen hat. Zuerst haben wir uns also eine sechseckige Region vorgestellt, dann einige Wolkenkratzer platziert, wie man sie aus Manhattan kennt, einige Piers hinzugefügt, und so entstand nach und nach die Stadt. Wir haben die Region dann Isshu genannt.



(Anm. d. Red.: Isshu heißt die Region in der japanischen Version. In Deutschland heißt sie Einall-Region)

Iwata Asks
Iwata:

Warum Isshu?

Masuda:

In dieser Region versammeln sich alle Arten von Pokémon und Personen, was zu „tashu“ führt (Japanisch für „verschiedene Arten“).

Iwata:

Ah, dann kommt Isshu von „isshurui“ (eine Art).

Masuda:

Genau. Da mögen zwar viele Arten (tashu) von Menschen versammelt sein, aber wenn man von weitem darauf blickt, wirkt es, als gäbe es nur eine Art (isshu), und so verfielen wir auf den Namen Isshu. In dieser Hinsicht erinnert es sehr an New York.

Iwata:

New York ist in der Tat ein interessanter Ort, in dem zahlreiche unterschiedliche Menschen und Kulturen aufeinandertreffen.

Masuda:

Stimmt. Ist das nicht ein Ort, an dem man sich vorstellen kann, dass die aus einem anderen Land stammenden Nachbarn eine wüste Party schmeißen und keiner sich darum schert? Ich finde es unglaublich, dass so viele verschiedene Menschen in einer einzigen Stadt zusammengekommen sind. Eine große Brücke gibt es auch – es war also nicht nur, dass ich hier gerne ein Konzert geben würde, sondern New York war einfach der perfekte Ort.

Iwata:

Verstehe. Und während Mr. Masuda sich auf diese neue Umgebung verlegte, mussten Sie, Mr. Sugimori, dafür sorgen, dass am Ende jeder sagen würde: „Ja, das ist Pokémon!“ War es das, was Ihnen beim weiteren Vorgehen durch den Kopf ging?

Sugimori:

Na ja, das war das erste Mal seit den allerersten Pokémon-Spielen „Pokémon Rot“ und „Pokémon Grün“, dass wir die gesamten Pokémon von Grund auf neu erschaffen haben.

Iwata:

Das stimmt. Bisher wurden bei jeder neuen Generation die Pokémon aus den Vorversionen übernommen und einige neue hinzugefügt.

Sugimori:

Aber durch das Erstellen eines neuen Pokémon wird auch ein ganz neues Ökosystem erforderlich.

Iwata:

Man denkt sich nicht einfach ein neues Pokémon aus, sondern muss eine ausgewogene Welt erschaffen.

Sugimori:

Und wenn man ein neues Ökosystem erschafft, stolpert man immer wieder über Pokémon-Arten, die es schon gab. Man denkt z. B.: "Wir brauchen ein rattenartiges Pokémon, aber das haben wir ja jedes Mal.“ In solchen Fällen müssen wir uns wirklich enorm anstrengen, damit es hinterher nicht heißt: „Das sieht genauso aus wie eins von den alten“, oder: „Das ist doch kein Pokémon!“

Iwata Asks
Iwata:

Die Pokémon-Designer gehen sogar in den Zoo, um echte Tiere zu beobachten und sich neue Inspiration zu holen, nicht wahr?

Sugimori:

Ja. Wenn nicht etwas Wirkliches zugrunde liegt, wirkt das Ergebnis nicht echt. Wir haben aus unseren Erfahrungen aus Zoos und Aquarien eine Basis geschaffen und uns dann selber die Aufgabe gestellt, daraus ein kreatives Design zu entwickeln, mit dem wir die Fans überraschen können.

Iwata:

Ich nehme an, Sie übertreiben Grundelemente oder mildern diese ab, aber die Pokémon ergeben sich aus tatsächlichen Besuchen in Zoos und Aquarien, wo Sie eine Basis für Ihre Kreationen finden. Sie schotten sich nicht einfach in einem Zimmer ab und zeichnen.

Sugimori:

Genau. Andernfalls würden die Pokémon unwirklich werden. Ich wollte keine unmöglich wirkenden Pokémon oder solche, bei denen man nicht wirklich erklären konnte, wie sie sich zusammensetzen.

Iwata:

Wie viele Leute haben denn am Design der neuen Pokémon gearbeitet?

Sugimori:

Dieses Mal waren es 17. Alle Grafikdesigner waren von Anfang an an den Pokémon-Spielen beteiligt.

Iwata:

War das immer der Fall?

Sugimori:

Ja. Jedes Mal sage ich: „Alle müssen mit ins Team, müssen Ideen beitragen, Ideen verwerfen, Konzepte machen und schließlich mindestens ein Pokémon entwerfen. Wir haben eine Menge Leute, einschließlich einiger Veteranen, und dieses Mal waren auch einige Neulinge dabei.

Iwata:

Bei „Pokémon Rot“ und „Pokémon Grün“ waren aber keine 17 Leute beteiligt, oder?

Sugimori:

Nein. Ich glaube, das waren knapp zehn.

Iwata:

Es muss doch seit damals schwieriger geworden sein, Pokémon zu entwerfen, die in ein einzelnes Ökosystem eintreten können und dieses zu einer natürlichen Umgebung machen. Und wahrscheinlich bestehen auch jede Menge Einschränkungen.

Sugimori:

Stimmt, eine ganze Reihe. Aber trotzdem haben Neulinge in der Regel sehr interessante Ideen.

Iwata:

Ach, Sie haben den Eindruck, dass Neueinsteiger deshalb neue Ideen haben, weil sie nicht durch vergangene Designs behindert werden?

Sugimori:

Ja. Aber gemeinsam mit den Veteranen verfügen wir über einen kollektiven Wissensschatz unterschiedlichster Designer und können so unterschiedlichste Pokémon erschaffen. Es ist ein großer Mitarbeiterstab, und jeder schlägt etwas vor, was er besonders gut kann oder was ihn besonders interessiert. Und dann komme ich und ... wie soll ich das sagen ...

Iwata:

Sie beurteilen dann, ob das jeweilige Design geeignet ist, in das Pantheon der Pokémon einzugehen?

Sugimori:

Genau. Ich fälle das Urteil, und beim Illustrieren entsteht dann ein Pokémon.

Iwata:

Mr. Sugimori, Sie haben jedes der Pokémon mindestens einmal gezeichnet, soweit ich weiß?

Sugimori:

Ich zeichne all die endgültigen, offiziellen Darstellungen. Und unmittelbar vor dem Erstellen der Pixelgrafiken zeichne ich die Pokémon ( Serpifeu , Floink , Ottaro ) aus unterschiedlichen Perspektiven. Wenn bis dahin Unterschiede in den Darstellungen bestehen, vereinheitliche ich sie an diesem Punkt.

Iwata:

Vielleicht liegt es gerade an diesem Prozess, dass die Pokémon immer diese ganz eigene Pokémon-Atmosphäre vermitteln.

Iwata Asks
Masuda:

Ich glaube schon. Sie passen optisch alle zusammen.

Iwata:

Also sind Sie eine Art Filter, durch den alle Ideen hindurch müssen und „pokémonisiert“ werden.

Sugimori:

Ja, wahrscheinlich. Und weil ich als Filter fungiere, kann ich die Mitarbeiter ganz frei die Grenzen des Pokémon-Wesens austesten lassen. Ich habe ja bereits erwähnt, dass die jüngeren Mitarbeiter oft gute und interessante Ideen haben, aber manche von ihnen sind mit Pokémon aufgewachsen, daher ...

Iwata:

Ich nehme an, Menschen, die schon immer Pokémon-Fans waren, die damit arbeiten wollen und deshalb zu Game Freak kommen, entwerfen erst einmal Designs, die ihnen bekannten Pokémon ähneln.

Sugimori:

Allerdings. Und ich sage Ihnen dann, dass sie ruhig an die Grenzen gehen und ein wenig daran rütteln können.

Iwata:

Mr. Masuda, was denken Sie, wenn Sie den Entstehungsprozess neuer Pokémon beobachten? Welche Art von Anforderungen stellen Sie?

Masuda:

Ich belege einen Konferenzraum und hänge die Bilder der Reihe nach auf. Wenn ich sie dann alle dort hängen sehe, bekomme ich in der zweiten Hälfte der Entwicklungsphase häufig das Gefühl, dass die Farbbalance nicht ganz in Ordnung ist.

Iwata:

So erkennen Sie die Gesamtausgewogenheit?

Masuda:

Ich betrachte all die Bilder und denke etwa: „Dieser Bereich enthält zu viel von dieser und jener Farbe“, oder: „Das hier ist ganz niedlich, aber ist das wirklich die richtige Farbe für dieses Pokémon?“ Aber ich sage nichts dazu; das überlasse ich Mr. Sugimori.