2. Das Herzeleid mit dem Mondgestein

Iwata:

Die von Ihnen erschaffenen Spielwelten haben alle einen Sci-Fi-Touch. Womit hat Ihr Faible für diese Elemente begonnen?

Takahashi:

Die erste Sache, an die ich mich erinnere ist, dass mir Shows, wie Captain Ultra7 und Ultra Seven8, gefielen, als ich noch sehr klein war und noch nicht mal in die Spielgruppe ging. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob man diese als „Sci-Fi“ bezeichnen kann. 7. Captain Ultra: Eine „Tokusatsu”-Show von Toei Productions. „Tokusatsu” ist ein Wort aus dem Japanischen zur Bezeichnung einer Fernsehshow mit Spezialeffekten.8. Ultra Seven: Eine „Tokusatsu”-Show von Tsuburaya Productions.

Iwata:

Man kann Sci-fi (Science Fiction) auch mit „Fantasy Science“ übersetzen. Und Ultra Seven war definitiv ein „Fantasy Tokusatsu“. Daher, denke ich, kann man dieses als Sci-Fi bezeichnen.

Takahashi:

Nun, als Kind habe ich diese Art von Fantasy Tokusatsu geliebt und denke, dass damit bei mir wahrscheinlich alles angefangen hat.

Iwata:

Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich wahrscheinlich auch Thunderbirds9 angesehen haben?9. Thunderbirds: Eine britische Sci-fi-TV-Show aus dem Jahre 1965, bei der Marionetten mit Spezialeffekten kombiniert wurden, die mit Miniatur-Modellen erzielt wurden.

Takahashi:

Natürlich habe ich das.

Iwata:

Meine Wurzeln liegen in Thunderbirds begründet, wenngleich ich da schon in die Spielgruppe ging. (lacht)

Takahashi:

(lacht) Mir gefielen auch Star Trek10 und Star Wars. Zu dieser Zeit wohnte ich in Shizuoka und konnte den ganzen Tag im Kino verbringen…10. Star Trek: Eine amerikanische Sci-Fi-TV-Serie, die 1966 startete. Später wurden eine Reihe von Filmen und Spinoff-Serien produziert.

Iwata:

Die alten Kinos funktionierten noch nicht nach dem „Ausschleussystem“11 wie heute.11. Ausschleussystem: Wenn heutzutage ein Film endet, müssen die Zuschauer den Kinosaal verlassen. In der Vergangenheit konnten sie aber, zumindest in Japan, dort den ganzen Tag verbringen.

Takahashi:

Genau. Da es sich um ein Kino auf dem Lande handelte, konnte ich mir dort einen Film mehrmals am Tag ansehen und manchmal sogar zwei verschiedene Filme genießen. Einmal zeigte das Kino Star Trek und Star Wars, und ich verbrachte dort den ganzen Tag.

Iwata:

Ich frage mich, was den kleinen Takahashi so an Sci-Fi faszinierte.

Takahashi:

Ich bastelte schon immer gern an Maschinen herum. Also fing ich an, sie zu zeichnen…und so zeichnete ich Raumschiffe und Raketen und solche Dinge...Ich beschäftige mich nur noch damit. Ich fragte mich, was mich so an Raketen faszinierte. Ich glaube aber, dass diese Vorliebe auf eine Geschichte zurückzuführen ist, die etwas herzzerreißend ist. Als ich vier Jahre alt war, besuchte ich die Expo '7012. 12. Expo '70: Die Weltausstellung in Japan. Die Weltausstellung fand 1970 in Japan unter dem Motto „Fortschritt und Harmonie für die Menschheit“ statt. 77 Länder nahmen teil. Mit ungefähr 65 Millionen Besuchern hielt die Expo ´70 den Besucherrekord bis 2010.

Iwata:

Ah, die Weltausstellung in Japan im Jahre 1970.

Takahashi:

Ich wollte unbedingt den amerikanischen Pavillon besuchen, um mir dort das Mondgestein anzusehen13. Aber ich bin mir sicher, Mr. Iwata, Sie können sich vorstellen, welch großer Andrang dort herrschte.13. Mondgestein: Ein Stück Mondgestein, das Apollo 12 im Rahmen des amerikanischen Apollo-Projekts von der Mondoberfläche mitgebracht hatte. Das Mondgestein wurde im amerikanischen Pavillon ausgestellt und verursachte erheblichen Andrang, da die Leute stundenlang Schlange standen, um es sich anzusehen. Außerdem wurde das Führungsschiff von Apollo 8 im Amerikanischen Pavillon ausgestellt.

Iwata:

Die Schlangen vor dem amerikanischen Pavillon waren die längsten von allen.

Takahashi:

Genau. Mein Vater wurde richtig wütend vor dem amerikanischen Pavillon und sagte: „Da kommen wir nie rein, egal wie viele Stunden wir hier warten.”

Iwata:

(lacht)

Takahashi:

Er meinte, wie sollten uns lieber andere Dinge ansehen und zeigte uns alle Pavillons, vor denen es keine Schlangen gab.

Iwata:

Die Pavillons ohne Schlangen waren doch bestimmt die unbeliebteren oder?

Takahashi:

Daher erinnere ich mich gar nicht mehr, welche Pavillons wir überhaupt besucht haben! (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

(lacht)

Takahashi:

Ich wollte unbedingt den amerikanischen Pavillon und den Roboter-Pavillon14 besuchen, habe jedoch keinen der beiden zu sehen bekommen. Das kann man doch schon als herzzerreißend bezeichnen, oder? (lacht)14: Roboter-Pavillon: Fujipan Roboter-Pavillon. Dieser erregte erhebliches Aufsehen, weil er von einem führenden japanischen Manga (Comic-Heft)- und Animationsproduzenten, Osamu Tezuka, erstellt wurde, der inzwischen verstorben ist.

Iwata:

Ich würde das schon als herzzerreißend bezeichnen. Immerhin ist Ihnen dieses schmerzliche Ereignis in Erinnerung geblieben, obwohl es bereits vor 45 Jahren passierte (lacht).

Takahashi:

Tatsächlich gab es noch einen weiteren herzzerreißenden Vorfall in meiner Kindheit. Mein Vater wollte mir nicht den Spielzeug-Roboter kaufen, den ich mir wünschte und so schluchzte ich den ganzen Heimweg über. Das zeigt doch, wie sehr mich Roboter faszinierten.

Iwata:

Wenn Ihnen Roboter so gefielen, dann müssen Sie doch auch von Gundam15 begeistert gewesen sein.15. Gundam: Mobile Suit Gundam. Eine japanische durch Roboter animierte TV-Serie aus dem Jahre 1979, die von Sunrise Inc. produziert wurde.

Takahashi:

Natürlich war ich das. Mein Sohn nennt mich einen Gun-Ota. (lacht)

Iwata:

Einen Gundam Otaku16? (lacht)16. Otaku: Ein japanisches Wort für einen Liebhaber oder Sammler, insbesondere von Videospielen und animierten TV-Serien.

Takahashi:

Ja, genau.

Iwata:

Mit anderen Worten könnten also diese herzzerreißenden Erlebnisse – nicht das Mondgestein zu sehen zu bekommen und nicht den Spielzeug-Roboter als Geschenk zu erhalten – für Sie die treibende Kraft gewesen sein, sich ganz in der Sci-Fi-Welt zu verlieren.

Takahashi:

Das mag sein. Andererseits wäre mein Leben vielleicht ein bisschen anders verlaufen, wäre ich in den amerikanischen Pavillon hineingelangt. Nach diesen Erfahrungen lebte ich das Leben eines Jungen, der für Sci-fi, einschließlich Gundam und vielem mehr, schwärmte.

Iwata:

Oftmals weisen die Sci-fi-Handlungen viele Widersprüche auf, so dass es leicht fällt, darüber Witze zu machen. Und wenn man sich anschließend darüber unterhält, macht das die Dinge noch lustiger.

Takahashi:

Das stimmt. Als ich beispielsweise in der Mittelstufe war, gab es eine Sci-fi-Zeitschrift namens Starlog17. I las Sci-fi-Zeitschriften und eignete mir dabei so viel Wissen an, wie ich nur konnte. Ich lernte damals wirklich, mich auszudrücken, dachte mir meine eigenen Geschichten und ähnliche Sachen aus. 17. Starlog: Eine Sci-fi-Monatszeitschrift, die erstmals 1976 erschien und in den USA von der Starlog Group Inc. veröffentlicht wurde

Iwata:

Sie haben also eine ganze Menge in sich aufgenommen und dann aufbauend auf dem, was Sie zusammengetragen hatten, etwas Neues erschaffen.

Takahashi:

Genau.

Iwata:

Sie hatten vorher erwähnt, dass Sie gern an Maschinen herumbastelten. Was genau haben Sie da gemacht?

Takahashi:

Ich habe Heimelektronik zerlegt. Haben Sie das nicht auch gemacht, Mr. Iwata?

Iwata:

Natürlich, ich habe es geliebt. (lacht)

Takahashi:

Meine Experimente fielen jedoch etwas gefährlicher aus: Zum Beispiel habe ich die Stereoanlage und den Fernseher zerlegt. (lacht)

Iwata:

Fernseher enthalten doch spannungsführende Teile. Das muss also richtig gefährlich gewesen sein.

Takahashi:

Wir hatten zu Hause eine richtig schöne, große Stereoanlage. Und als ich diese zerlegt hatte, gelang es mir nicht, sie wieder aufzubauen. (lacht) Mein Vater wurde deswegen richtig böse.

Iwata:

Das war also ein weiteres Mal, dass er Ihnen böse war?

Takahashi:

Er war außer sich!

Iwata:

(lacht) Wie alt waren Sie damals?

Takahashi:

Ich muss in der Spielgruppe gewesen sein.

Iwata:

In der Spielgruppe? Das ist aber außergewöhnlich früh, in diesem Alter schon Stereoanlagen zerlegen zu können. (lacht)

Takahashi:

Ich gehörte zu den Kindern, die keine Schraube ansehen konnten, ohne sie sofort lösen zu müssen. Ich musste herauszufinden, was sich im Inneren verbarg.

Iwata:

Haben Sie auch an elektrischen Schaltkreisen herum getüftelt?

Takahashi:

Ich weiß nicht, ob man das als elektrische Schaltkreise bezeichnen kann, aber ich habe tatsächlich mit einer anderen Art von Blöcken gespielt.

Iwata:

Ach, Denshi Blöcke.18. Denshi Blöcke – Diese Spielzeugblöcke wurden von der Firma, die jetzt Gakken Holdings Co., Ltd heißt, hergestellt und enthielten elektrische Bauteile, wie Transistoren und Widerstände, mit denen Kinder spielerisch die Grundlagen elektrischer Schaltkreise erlernen konnten.

Takahashi:

Richtig, Denshi Blöcke. Mit denen habe ich immerzu gespielt.

Iwata:

Denshi Blöcke waren ziemlich teuer. Daher haben meine Eltern sie mir nicht gekauft. (lacht). Mr. Takahashi, auch wenn wir uns leicht im Alter unterscheiden, so haben wir doch vielfach die gleichen Erfahrungen gemacht.

Takahashi:

Das stimmt.

Iwata:

Ich hätte nie gedacht, dass wir uns über die Expo '70 unterhalten würden. (lacht)

Takahashi:

Ich auch nicht. (lacht)

Iwata:

Ich denke, es hat das Leben vieler Leute verändert, dass sie auf der Expo ein bisschen mit der Zukunft experimentieren konnten, selbst wenn es dabei nicht um das Mondgestein ging, von dem Sie berichteten.

Iwata Asks
Takahashi:

Das muss so gewesen sein, insbesondere bei Leuten, die von Ende der 50er bis Ende der 70er Jahre geboren wurden.

Iwata:

Ich wurde ganz zum Ende der 50er Jahre und Sie wurden in den 60er Jahren geboren. Daher hatten wir während unserer Kindheit einen ähnlichen Geschmack. Ich für meinen Teil beschäftigte mich viel mit Computern und als ich das Gymnasium besuchte und in Sapporo wohnte, verwendete ich programmierbare Rechner 19, um Spiele zu erstellen. Dies erwies sich später als sehr hilfreich, als ich anfing mit Videospielen zu arbeiten. 19. Programmierbare Rechner: Ein Taschenrechner, der – ähnlich wie ein Computer – mithilfe eines Programms schwierige Rechnungen automatisch löst.

Takahashi:

Genau.

Iwata:

Andererseits kamen Sie mit allen möglichen Sci-fi-Arbeiten in Berührung, was dazu führte, dass Sie Bilder zeichneten und sich Geschichten ausdachten. Das hat Ihnen wiederum später viel geholfen, als Sie anfingen, sich über Videospiele auszudrücken.

Takahashi:

Das denke ich auch.