1. Der Famicom-Millionär

Iwata:

„Iwata fragt“ befasst sich heute mit „The Wonderful 101“, ein von PlatinumGames Inc.1 für Wii U entwickeltes Spiel. Das Interview besteht aus zwei Teilen. Für den ersten Teil habe ich den Leiter des Spiels, Kamiya-san, um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit für mich genommen haben.1. PlatinumGames Inc.: Ein 2006 gegründetes Videospielunternehmen. The Wonderful 101 für Wii U kommt am 23. August in Europa auf den Markt. Im Moment arbeitet das Unternehmen an der Entwicklung von Bayonetta 2 für Wii U. Firmenzentrale: Osaka. Weitere Informationen gibt es im „Iwata fragt“-Interview zu PlatinumGames.

Kamiya:

Ich danke Ihnen!

Iwata:

Ist das ein T-Shirt zu The Wonderful 101?

Kamiya:

Ja. (lacht) Ich habe es hier getragen.

Iwata Asks
Iwata:

Gefällt mir! (lacht) Bevor ich Fragen zu The Wonderful 101 stelle, was für einen Werdegang jemand wie Sie hat, der solch energiegeladene Spiele entwickelt.

Kamiya:

Es ist mir eine Ehre.

Iwata:

Zunächst wüsste ich gerne, wann Sie zum ersten Mal einem Videospiel begegnet sind.

Kamiya:

Ich kann mich nicht genau erinnern, doch ich habe mich schon als kleiner Knirps zu diesen digitalen Pieptönen hingezogen gefühlt. Sie erschienen mir schon immer sehr vertraut.

Iwata:

Haben Sie Videospiele eher zu Hause gespielt oder woanders?

Kamiya:

Ich glaube, am Anfang habe ich in den Videospielecken von Kaufhäusern und ähnlichen Orten gespielt. Während meiner Grundschulzeit kamen dann Geräte auf den Markt, die man an den Fernseher anschließen konnte, wie TV Vader2, Epoch Cassette Vision3, Tomy Tutor4 und Intellivision.52. TV Vader: Eine Spielkonsole, die 1980 von Epoch Co. in Japan veröffentlicht wurde. Sie enthielt ein Spiel, in dem man außerirdische Eindringlinge abschießen musste.3. Epoch Cassette Vision: Eine Spielkonsole mit Kassettendeck, die 1981 von Epoch Co. in Japan vorgestellt wurde.4. Tomy Tutor: Ein Spiele-PC mit 16 Bit Speicher, der 1982 von Tomy Co., Ltd. (heute Takara Tomy) in Japan auf den Markt kam. 1983 kam er in die europäischen Geschäfte. In Großbritannien war er auch unter der Bezeichnung „Grandstand Tutor“ bekannt.5. Intellivision: Eine Spielkonsole, die 1982 in Europa von Mattel, Inc. vorgestellt wurde. In Japan wurde sie ab 1982 von Bandai Company, Limited (heute Namco Bandai Games Inc.) vertrieben.

Iwata:

Ja. Damals haben viele Unternehmen ihre eigenen Heimkonsolen herausgebracht.

Kamiya:

Ich wollte unbedingt eine Spielkonsole, damit ich zu Hause spielen konnte, doch meine Eltern waren sehr streng und haben mir deshalb keine gekauft.

Iwata:

Das ging damals allen so. Viele Leute sind zum Spielen zu Freunden gegangen.

Kamiya:

Ein älterer Junge in meiner Nachbarschaft hatte ein Epoch Cassette Vision. Ich wollte unbedingt damit spielen, also habe ich ihn besucht, doch er war ein kleiner Tyrann und hat mich immer gequält.

Iwata:

Doch Sie wollten trotzdem spielen?

Kamiya:

Ja. Wenn man die Wahl hatte, zu Hause herumzuhängen, ohne gequält zu werden, oder mit dem Epoch Cassette Vision zu spielen, hat die Spielkonsole immer gewonnen. Ich kam jedes Mal mit blauen Flecken heim, doch am nächsten Tag ging ich trotzdem wieder hin.

Iwata:

Die Verlockung war einfach zu groß. Weshalb genau haben die Spiele Sie so magisch angezogen?

Kamiya:

Ich weiß nicht recht. Wie gesagt, mochte ich die elektronischen Töne, daher war mir die Musik in den Computerspielen lieber als normale Musik. Natürlich habe ich auch gerne gespielt, doch meine Ohren waren total süchtig nach der Musik.

Iwata:

Ich vermute, dieser Geschmack war Ihnen einfach angeboren.

Iwata Asks
Kamiya:

Aus heutiger Warte betrachtet muss ich Ihnen Recht geben.

Iwata:

Was war Ihre erste eigene Spielkonsole?

Kamiya:

Im ersten oder zweiten Jahr der Mittelstufe habe ich mir von meinem Neujahrsgeld ein Famicom6 gekauft.6. Famicom: auch „Family Computer System“, wurde in Japan das erste Nintendo Entertainment System (NES) genannt. Das Famicom kam 1983 in Japan auf den Markt.

Iwata:

Nachdem Sie sich so lange eine eigene Konsole gewünscht und dafür so viel in Kauf genommen hatten, konnten Sie nun endlich zu Hause spielen.

Kamiya:

Ja. Allerdings konnte ich mir nicht sofort eins kaufen, als ich die Erlaubnis erhielt. Es herrschte nämlich gerade ein beispielloser Famicom-Boom, und so waren die Geräte überall ausverkauft.

Iwata:

Selbst wenn man damals ein Famicom kaufen wollte, konnte man das nicht so einfach.

Kamiya:

Auch in meinem Freundeskreis besaß noch kaum jemand eins. Doch in einem Kaufhaus in der Nähe gab es eine Aktion, bei der man ein Famicon kaufen konnte, wenn man zu den ersten zehn Kunden im neuen Jahr zählte. Also bin ich um vier Uhr morgens aufgestanden und habe mich auf den Weg gemacht. Doch als ich ankam, standen bereits zehn Leute vor mir in der Schlange!

Iwata:

Das war bestimmt ein ganz schöner Schock. (lacht)

Kamiya:

Ich komme aus Matsumoto in der Präfektur Nagano7, doch sogar in Matsumoto gab es zehn Leute, die noch entschlossener waren als ich.7. Matsumoto in der Präfektur Nagano: Eine Stadt auf der japanischen Insel Honshū mit ca. 240.000 Einwohnern.

Iwata:

(lacht) Da haben Sie sicher gedacht: „Wow, diese Leute lieben Spiele sogar noch mehr als ich.“

Kamiya:

Genau. Ich hab mich dann wieder nach Hause geschleppt. Es waren gerade Ferien, daher war mein Cousin zu Besuch, und er erzählte, er kenne jemanden, der mir ein Famicom mit 15 Spielen zum Sonderpreis von 30.000 Yen verkaufen würde (Anmerkung der Redaktion: 30.000 Yen sind ca. 230 Euro).

Iwata:

Da haben Sie aber Glück gehabt!

Kamiya:

Ja. So bin ich dann über Nacht zum Famicom-Millionär geworden! Es war damals ein unglaubliches Glück, 15 Spielmodule zu besitzen.

Iwata:

Allerdings! So viele hatte kein anderer Schüler in Ihrem Alter.

Kamiya:

Ich weiß. Das erste Spiel, das ich damals selbst gekauft habe, war Nuts & Milk8, doch das hatte ich schon, bevor ich die Konsole besaß, und so hab ich ewig nur das Spielmodul und das Handbuch angestarrt!8. Nuts & Milk: Ein Actionspiel, das 1984 in Japan von Hudson Soft Company für die Famicom auf den Markt kam.

Iwata:

Tatsächlich? (lacht) Es muss enorm gewesen sein, als Schüler plötzlich 15 Spiele zu besitzen!

Kamiya:

Stimmt! Damals sind alle zu mir gekommen, um mir Spiele zu leihen oder sich welche zu borgen. Von dem Zeitpunkt an war ich total vom Famicom besessen. Ich glaube, in meiner Generation ging das jedem so.

Iwata:

Zuvor musste man in eine Spielhalle gehen, um spielen zu können, doch auf einmal ging das auch zu Hause, und zwar so viel man wollte. Das muss Ihnen wie die Erfüllung eines Traums vorgekommen sein!

Kamiya:

Absolut. Und die Famicom-Spiele waren genau wie die Spiele in den Spielhallen. Sie waren ungeheuer begehrenswert. Wenn ich zurückblicke, bin ich beim Kauf einer Spielkonsole nie mehr so glücklich und aufgeregt gewesen wie damals.

Iwata Asks
Iwata:

Wahrscheinlich wurde Ihre Freude durch verschiedene Faktoren zusätzlich verstärkt, z. B. dadurch, wie lange Sie hatten warten müssen und wie stark Ihr Wunsch während dieser Zeit gewachsen war.

Kamiya:

Genau. Weder vorher noch nachher habe ich mich je so gefreut, etwas zu kaufen. Das war ein unglaubliches Erlebnis!

Iwata Asks
Iwata Asks
Iwata Asks
Iwata Asks
Iwata:

Herr Yamagami, was dachten Sie über dieses Projekt, als Sie das erste Mal davon hörten?

Yamagami:

Es passiert mir ja nicht oft, aber als ich das Cover gesehen habe, bin ich zurückgezuckt … (lacht)

Iwata:

Das ist in der Tat eine ungewöhnliche Reaktion von Ihnen, Herr Yamagami! Das kommt sicher nicht sehr oft vor.

Yamagami:

Ich weiß aus Erfahrung, dass es unmöglich ist, so viele Charaktere in ein Spiel hineinzuquetschen, dass sie quasi von selbst die Form verändern. Der Inhalt ist dabei erst einmal Nebensache.

Iwata:

Das Cover macht auf jeden Fall sogar mich nachdenklich – und dabei war ich der Producer, der sich schier die Beine ausgerissen hat, um all die Charaktere in das erste „Smash Bros.“ aufzunehmen! (lacht)

Iwata Asks
Yamagami:

Ja! (lacht) Als der Plan also vorgeschlagen wurde, war meine erste spontane Reaktion: „Das ist völlig unmöglich.“ Das Projekt wurde dann erst mal eine Weile auf Eis gelegt.

Iwata:

Die Mischung verschiedener Charaktere war also vom Tisch.

Yamagami:

Ja. Einige Monate später, nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen, wurde uns dann über unsere Lizenzierungsabteilung, die als Anlaufstelle für Drittunternehmen fungiert, ein Plan vorgeschlagen, der keine „All Stars“ enthielt. Ich wusste erst mal nichts davon, aber Herr (Shinya) Takahashi10 rief mich zu sich, zeigte mir eine Demo und sagte: „Schauen Sie sich das mal an! Das ist wirklich interessant.“ Als ich das sah, wusste ich sofort, dass es sich um diese Idee von PlatinumGames handelte. 10. Shinya Takahashi: Geschäftsführer von Nintendo, Generaldirektor der Software Planning & Development Division und Generaldirektor der Abteilung für Software-Planung & Entwicklung. Er nahm an Iwata fragt: Wii Street U powered by Google teil.

Iwata:

Sie wussten, dass es dieses Konzept war, das Ihnen bereits vorgelegt worden war.

Yamagami:

Das war mir sofort klar. Ich erklärte Herrn Takahashi, worum es ging, und flehte ihn an, das Projekt mir zu übertragen. Und so fing alles an.