1. Nach 18 Jahren wieder Direktor

 

Hinweis der Redaktion:
Dieses Interview fand am 17. August 2010 statt.

Iwata:

Vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit nehmen, um zu mir zu kommen.

Sakaguchi:

Ich bin sehr froh, heute hier zu sein.

Iwata:

Dass Sie heute zu solch einem Interview zu mir kommen, gibt dem Ganzen einen bedeutungsvollen Rahmen. (lacht)

Sakaguchi:

Wirklich? ... Ah! Ich verstehe, was Sie meinen! (lacht)

Iwata:

Ich habe bloß den Eindruck, dass viele Leute Sie als ganz entfernt von den Prozessen bei Nintendo sehen.

Sakaguchi:

Ja, da könnten Sie recht haben.

Iwata:

In der Vergangenheit hat es wohl wirklich einen Zeitpunkt gegeben, an dem dies gestimmt hat. Aber ich sehe Sie wirklich nicht als jemanden, der weit von Nintendo entfernt ist. Sie haben mich doch auf der Nintendo DS-Konferenz1 besucht, wo Sie den ASH2 enthüllten. 1Das Ereignis, auf das hier Bezug genommen wird, ist die Nintendo DS-Herbstkonferenz am 5. Oktober 2005. 2ASH: Archaic Sealed Heat war ein RPG, das in Japan im Oktober 2007 für den Nintendo DS veröffentlicht wurde. Hironobu Sakaguchi war der Produzent dieses Projekts.

Sakaguchi:

Ja, das stimmt.

Iwata:

Jetzt hatten wir bei The Last Story wieder die Gelegenheit, zusammenzuarbeiten. Können Sie beschreiben, wie es zu diesem Projekt kam?

Iwata Asks
Sakaguchi:

Ich verließ Square3 2003, und nachdem ich eine Art kurze Pause gemacht hatte, fing ich wieder an zu arbeiten und war an der Entwicklung einer Reihe von Titeln beteiligt. Und gerade als die Arbeit an diesen Titeln allmählich dem Ende zuging, war ich an einem Punkt, an dem ich sehr viel reflektierte ... Nun, wie soll ich das erklären? Ich hatte das Gefühl, ich sei mit der Zeit aus dem Takt gekommen. 3Hironobu Sakaguchi managte bei Square (heute: Square Enix), die Final Fantasy-Serie (von FF I bis zu FF X-2).

Iwata:

Würden Sie wirklich so weit gehen und sagen, Sie wären ‘aus dem Takt’ geraten?

Sakaguchi:

Nun, vielleicht nicht ganz aus dem Takt. Ich hatte nur das Gefühl, ich befände mich an einem ganz anderen Punkt als all die anderen. So als würde ich an den anderen entlang surfen, hätte dabei aber eine ganz andere Welle erwischt als die, die ich mir zum Ziel gesetzt hatte. Dieses Projekt entwickelte sich gerade zu einer Zeit, als mir das bewusst wurde. Daher empfinde ich, wenn ich ehrlich bin, so etwas wie Dankbarkeit gegenüber diesem Spiel.

Iwata:

Können Sie bitte genau erklären, was Sie hier mit ‘Dankbarkeit’ meinen’?

Sakaguchi:

Nun, zunächst einmal war ich für die Chance dankbar, an einem so groß angelegten Projekt mitarbeiten zu dürfen.

Iwata:

Es ist ein wirklich gewaltiges Spiel geworden.

Sakaguchi:

Richtig. Und darüber hinaus bot es mir die Möglichkeit, Abstand zu meiner gewohnten Vorgehensweise bei der Spielentwicklung zu gewinnen, von den herkömmlichen Methoden, an die ich mich gewöhnt hatte. Ich hatte nach einer neuen Herausforderung gesucht und empfand daher aufrichtige Dankbarkeit für solch eine Gelegenheit. Wenngleich ich vielleicht ein bisschen nervös war, empfand ich doch Dankbarkeit für die Unterstützung, die mir bei dieser neuen Aufgabe zuteil wurde.

Iwata:

Ich versuche, das Wort „nervös“ nicht in der Öffentlichkeit zu verwenden. Da wir aber in der Spieleentwicklung arbeiten, können wir uns diese Offenheit wohl erlauben. Wenn man etwas Neues erstellt und dabei die Art und Weise verändern möchte, wie etwas gemacht wird, dann wird es dabei immer ein gewisses Unbehagen geben.

Sakaguchi:

Das stimmt. Und das trifft ganz besonders auf diesen Fall zu.

Iwata:

Welche Aspekte dieses Projekts machten Sie nervös?

Sakaguchi:

Nun, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, machte es mich nervös, mich von meinem gewohnten Muster bei der Spiele-Erstellung zu entfernen. Gerade bei diesem Titel hatte ich als Schöpfer des Spiels das Gefühl, mich selbst bloßzustellen. Ich war nervös, wie die Kunden auf meine Ideen reagieren würden. Gleichzeitig gab es aber auch bestimmte einzigartige Dinge, die ich tun und ausdrücken wollte. Letzten Endes glaube ich nicht, dass mein Ansatz missverstanden wurde. Dennoch erforderte ein Projekt von solcher Größe, das sich an so viele Leute richtete, dass alle erkannten, was ich erreichen wollte. Gleichzeitig wollte ich die Leute aber auch emotional berühren und sie zu einer positiven Einstellung gegenüber diesem Spiel bringen. All dies bedeutete, dass ich mich bloßstellen und das Projekt frontal angehen musste.

Iwata Asks
Iwata:

Sie meinen also, Sie waren nervös, inwieweit die Leute auf das ansprechen würden, was Sie geschaffen hatten. Bei der Massenunterhaltung ist dies von ausschlaggebender Bedeutung. Außerdem war dies mit der Tatsache verbunden, dass Sie versuchten, alles auf ganz andere Art und Weise zu machen.

Sakaguchi:

Ja, das stimmt. Und das ist genau der Grund, weshalb ich mich dieses Mal bloßstellen musste.

Iwata:

Hätten Sie das Spiel in der altbewährten Weise erstellt, dann hätten Sie gewusst, wie die Leute reagieren, wenn Sie dieses oder jenes machten.

Sakaguchi:

Genau.

Iwata:

Nun, Sie betraten also Neuland.

Sakaguchi:

Das stimmt. Ich musste mir eine neue Vorgehensweise überlegen und hatte es dabei mit diesem Unbehagen zu tun, das mit dem Abweichen vom Herkömmlichen und der Ungewissheit einhergeht, ob die neue Methode auch wirklich zur richtigen Lösung führt.

Iwata:

Wenn Sie doch nur dieses Unbehagen ganz schnell loswerden könnten, sagen wir mal innerhalb eines Monats nach Entwicklungsbeginn. Dann wäre alles nicht so schwierig. Aber dieses war ein besonders langes Projekt, nicht wahr?

Sakaguchi:

Das war es tatsächlich.

Iwata:

Und es braucht seine Zeit, bis man weiß, wie sich die Dinge entwickeln, richtig?

Sakaguchi:

Daher war ich stets nervös ... Wenngleich das eigentlich auch ganz amüsant ist! (lacht)

Iwata:

Genau! (lacht)

Sakaguchi:

Dieses Mal ist mir richtig bewusst geworden, dass ich die Arbeit an diesem Projekt genießen sollte. Ich meine das ganz positiv, nicht dass ich mir die Entwicklung zum Vergnügen gemacht hätte. Dieses Element der leichten Ungewissheit kann wohl auch ganz nützlich sein ...

Iwata:

Wenn Sie also nach einem Schema vorgehen, dann gehen Sie gelassener an die Dinge heran. Es besteht jedoch das Risiko, dass die Arbeit dann zur Routine wird. Das ist viel weniger reizvoll.

Sakaguchi:

Das stimmt.

Iwata:

Dafür dass Sie weniger unruhig sind, erhalten Sie auch weniger Nervenkitzel, und anstatt Ihre Arbeit an dem Projekt zu genießen, besteht das Risiko, dass Sie das Projekt eher folgendermaßen einschätzen: “Da müssen wir noch aufräumen – das müssen wir erledigen.” Setzt man sich also der Gefahr aus, die Dinge auf ganz andere Art und Weise zu erledigen, dann ist dieses gewisse Unbehagen wohl der Preis, den man dafür zahlt. Dennoch hat diese Vorgehensweise doch ihren Reiz.

Iwata Asks
Sakaguchi:

Ich glaube, das trifft es.

Iwata:

Beschreiben Sie doch bitte noch einmal genau, was Sie mit diesem Gefühl des „Bloßstellens“ meinen, das Sie angesprochen haben. Bei diesem Titel gibt es keinen einzigen Schritt, an dessen Entwicklung Sie nicht beteiligt waren. Sie haben das Verfahren also nicht aus der Vogelperspektive erlebt. Sie waren an vorderster Front und haben selbst die kleinsten Details entschieden.

Sakaguchi:

Das stimmt. Einfach ausgedrückt, konnte ich bei diesem Titel die Rolle des Direktors spielen.

Iwata:

Und als Direktor hatten Sie das Gefühl, sich bloßzustellen.

Sakaguchi:

Genau.

Iwata:

Nun, stimmt es, dass Sie seit Final Fantasy V4 nicht mehr als Direktor gearbeitet hatten? 4Final Fantasy V war ein RPG, das erstmals für das Super Famicom in Japan im Dezember 1992 veröffentlicht wurde.

Sakaguchi:

Ja, das stimmt. Bei VI5 gab es eine Zeit, in der ich mich in einer Art Grauzone bewegte und halb als Direktor arbeitete. Aber FF V war tatsächlich der letzte Titel, bei dem ich offiziell als Direktor fungierte. 5Final Fantasy VI war ein RPG, das erstmals für das Super Famicom in Japan im April 1994 veröffentlicht wurde.

Iwata:

Aber Final Fantasy V kam 1992 auf den Markt, was bedeutet ...

Sakaguchi:

Was bedeutet, dass ich nun das erste Mal seit achtzehn Jahren wieder als Direktor gearbeitet habe. Und es hat sich gezeigt, dass mir die Arbeit als Direktor doch am meisten liegt! (lacht)

Iwata:

Das ist also die beste Position für Sie! (lacht) Mr. Miyamoto besucht ab und zu das Entwicklungsteam, und während alles nach sehr strapaziöser Arbeit aussieht, kommt er mit federnden Schritten daher und sagt: „Die Zusammenarbeit des Entwicklungsteams ist einfach unschlagbar!“ Ich denke, das ist es, was Sie gerade beschreiben.

Sakaguchi:

Ja. Es macht einfach unglaublich glücklich, wenn man den Kopf ganz frei hat und sich einzig und allein auf die Arbeit mit dem Entwicklungsteam konzentriert. Und wenn man sich ganz und gar gemeinsam mit dem Team zurückzieht, gelingt es einem manchmal, die Dinge um einen herum klarer zu sehen.

Iwata:

Sobald Sie zum Entwicklungsteam stoßen, werden Ihnen plötzlich Dinge klarer, die Ihnen vorher nicht aufgefallen sind.

Sakaguchi:

Das stimmt. Selbst wenn die Arbeit die gleiche ist, macht sie mehr Spaß, wenn man mittendrin an vorderster Front ist. Ich habe auch den Eindruck, dass dieser Reiz, mit dem Entwicklungsteam zusammenzuarbeiten, an die Spieler weiter kommuniziert wird. Meiner Meinung nach konnte das erste Final Fantasy6 ein solches Niveau erreichen, weil das ganze Team mit so großem Enthusiasmus an der Entwicklung beteiligt war. 6Final Fantasy war ein RPG, das für den Nintendo Famicom in Japan im Dezember 1987 veröffentlicht wurde.

Iwata:

Der Enthusiasmus des Teams spiegelt sich in hohem Grad im Spiel wider. Diese Erfahrung habe ich schon oft selbst gemacht: dass die Emotionen der Schöpfer in das Spiel eingehen und an die Spieler weiter kommuniziert werden.

Sakaguchi:

Deshalb habe ich diesem Gefühl dieses Mal so viel Wert beigemessen. Mein Ziel war es, die Freude, die ich persönlich bei der Erstellung des Spiels empfand, in eine Art Energie umzuwandeln, um diese anschließend an den Spieler weiterzugeben.

Iwata Asks
Iwata:

Nur interessehalber: Was war das allererste Element, das Sie bei der Erstellung von The Last Story festgelegt haben?

Sakaguchi:

Wir haben mit der Story und der Sicht auf die Welt angefangen. Ich entwickle schon seit 25 Jahren Videospiele, und dabei war mir die Story schon von je her sehr wichtig. Das war bei diesem Titel nicht anders.

Iwata:

Sie haben Ihre Spiele immer mit der Motivation erstellt, zu überprüfen, inwieweit sich die Story und die Sicht auf die Welt realisieren ließen.

Sakaguchi:

Ja, das stimmt.

Iwata:

Und auch die Umgebungen entwickelten sich weiter, so dass Sie diese im Laufe der Zeit auf ganz viele verschiedene Arten realisieren konnten ...

Sakaguchi:

Nun, ich habe zu Zeiten des Famicom angefangen, als man im Hinblick auf Grafik und Sound in seinen Möglichkeiten noch recht eingeschränkt war.

Iwata:

Auf dem Bildschirm konnten wir damals nur grobe Darstellungen zeigen.

Sakaguchi:

Das stimmt. Wir mussten uns überlegen, wie wir den Spielern im Hinblick auf diese Einschränkungen die Story vermitteln konnten. Heute, wo hochwertige Grafiken an der Tagesordnung sind, kann man alles beliebig abbilden, um visuell zu kommunizieren. Gleichzeitig gibt es jedoch ein Element – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll –, das irgendwie überzogen ist...

Iwata:

Den Spielern bleiben auch die Dinge nicht verborgen, die Sie ihnen lieber nicht zeigen wollten.

Sakaguchi:

Letzten Endes wird dem Spieler zu viel kommuniziert. Darum habe ich jetzt das Gefühl, dass wir an einem Wendepunkt stehen. Bei diesem Titel habe ich gewissermaßen Reset gedrückt und bin zu den Grundlagen zurückgekehrt, was ein Spiel ausmacht. Am Anfang habe ich lange überlegt, was es bedeutet, eine Story in einem Spiel zu erzählen. Dabei betrachtete ich nicht nur die für die Story relevanten Aspekte, sondern auch die Grundlagen des Systems.

Iwata:

Mit diesen Grundlagen haben Sie sich sehr lange beschäftigt, nicht wahr?

Sakaguchi:

Das haben wir gemeinsam gemacht. Aus diesem Grund haben wir in den Prototyp-Phasen der Spielentwicklung wiederholt mit dem System herumexperimentiert. Wir wussten, dass wir etwas schaffen wollten, das sich von der herkömmlichen Art und Weise unterschied. Wir wollten die Spielwelt und die Story in einem ganz anderen Stil vermitteln. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir wirklich alles Menschenmögliche daran gesetzt haben.

Iwata:

Ich frage mich, ob sich dieses Gefühl, wirklich alles zu geben, auch in dem Titelnamen ‘The Last Story’ widerspiegelt.

Sakaguchi:

Ja. Genau wie bei Final Fantasy machten wir wirklich alles möglich, so als wäre dies unser letztes Spiel. Ich möchte betonen, dass dieses Gefühl bei diesem Titel ganz besonders ausgeprägt war.

Iwata:

Sie gaben also wirklich alles, damit es später keine Reue geben würde, sollte dieses Ihr letztes Spiel sein.

Sakaguchi:

Ganz genau. Hätte ich es „vermasselt“, hätte ich wohl in Rente gehen müssen ... (lacht)

Iwata:

(lacht)

Sakaguchi:

Natürlich möchte ich auch für den Rest meines Lebens kreativ arbeiten. Wenn man aber an einem Projekt dieser Größenordnung arbeitet, dann muss man sich auch Gedanken über einen möglichen Misserfolg machen. Gleichzeitig wollte ich etwas schaffen, bei dem ich wirklich alles geben konnte, in das ich nicht hätte mehr einbringen können.

Iwata:

Ich erinnere mich, dass ich von meinem Kollegen, der für dieses Projekt vorgesehen war, hörte, dass Sie sich für diesen Titel entschieden hatten. Ich war davon überzeugt, dass Sie dafür alles in Ihrer Macht stehende tun würden.

Iwata Asks
Sakaguchi:

Nun, schließlich geht es hier doch um ‘The Last Story’! (lacht)