1. Fünfzehn Jahre Emotionen

Iwata:

Heute möchte ich Sie, wenn Sie gestatten, gern zu Wii U Chat, der Videochat-Funktion der Wii U-Konsole, oder auch dem Bildtelefon, befragen. Wir haben dieses Thema in den vergangenen Präsentationen kurz angeschnitten, hatten damals aber keine Gelegenheit, gründlicher darauf einzugehen. Daher möchte ich mich gern heute mit Ihnen darüber unterhalten und bitte Sie, sich zunächst kurz vorzustellen.

Tamiya:

Ich bin Mr. Tamiya von der Abteilung „Network Business“ und habe das Wii U Chat-Projekt geleitet.

Iwata Asks
Watanabe:

Ich bin Mr. Watanabe von der Design Technology Group. Ich war für die Programmbibliothek1 von Wii U Chat verantwortlich. Vielen Dank, dass Sie mich heute eingeladen haben.1. Programmbibliothek: Ein Programm mit einer bestimmten Funktion, das standardisiert und in eine von einem anderen Programm zu lesende Komponente umgewandelt wird. Eine Programmbibliothek kann nicht allein funktionieren, sondern funktioniert immer nur als Teil eines Programms.

Iwata Asks
Iwata:

Mr. Watanabe, Sie gehören zur „Design Technology Group“, einem sehr kleinen Bereich innerhalb der Integrated Research and Development Division, der sich mit der Erstellung der Nintendo-Hardware beschäftigt. Ihre Abteilung forscht in alle möglichen Richtungen, um Technologien für zukünftige Spiele zu entwickeln und dazu gehörte auch Wii U Chat.

Watanabe:

Ja, das ist korrekt.

Iwata:

Können Sie mir beide bitte davon berichten, wie die Idee für Wii U Chat entstanden ist?

Watanabe:

Nun, Mr. (Genyo) Takeda2 war schon seit Jahren an einer Bildtelefon-Funktion interessiert, und wir von der Integrated Research and Development Division hatten vor, diese Funktionalität eines Tages einzubauen. 2. Genyo Takeda: Senior-Geschäftsführer von Nintendo und Generaldirektor des Geschäftsbereichs Integrierte Forschung und Entwicklung. Er ist bei Nintendo für die Hardware-Entwicklung verantwortlich und hat in der Vergangenheit an den folgenden 'Iwata fragt'-Interviews teilgenommen: Die Hardware der Wii-Konsole, Wii-Fernbedienung, Punch-Out!! und Die Wii U-Konsole.

Iwata:

Ja. Ich erinnere mich auch, damals zu Zeiten des Nintendo 643-Systems viel von Mr. Takeda zu diesem Thema gehört zu haben. Also vor ungefähr 15 Jahren – das war noch vor meiner Zeit bei Nintendo. (lacht) Genauso wie das Karikatur-Konzept4 von Mr. Miyamoto war dies ein Thema, das Mr. Takeda schon lange im Auge hatte. 3. Nintendo 64: Eine Heimkonsole für Videospiele, die im Juni 1996 veröffentlicht wurde. 4. Karikatur-Konzept: Hierunter versteht man das Konzept von Shigeru Miyamoto, mit dem man Karikaturen von sich selbst und anderen für die spätere Verwendung in Videospielen erstellen kann. Dieses Konzept wurde mit dem Mii-Kanal auf der Wii-Konsole realisiert.

Watanabe:

Als wir im Laufe der Entwicklung der Wii U über den Einbau einer Kamera sprachen, sahen wir uns gemeinsam mit NTD5 und Vidyo6, einer amerikanischen Firma, die auf Videokonferenzsysteme spezialisiert ist, die Kommunikationstechnik an. Und dann, zum Ende des letzten Jahres waren wir schließlich überzeugt, dass wir es schaffen könnten. 5. NTD (Nintendo Technology Development Inc.): Eine amerikanische Technologie-Forschungs- und Entwicklungsgruppe, die von Howard Cheng mit Sitz in Redmond, Washington geleitet wird.6. Vidyo, Inc.: Ein Hersteller für Videokonferenzsysteme, dessen Unternehmen 2005 in den USA gegründet wurde.

Iwata:

Das Wii U GamePad verfügt zwar über eine interne Kamera, hat aber keine externe Kamera. Das bedeutet also, dass die Kamera unbedingt in Verbindung mit Videokonferenz-Software zu nutzen ist. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Vidyo?

Watanabe:

Vidyo liefert vor allem Video-Konferenzsysteme für den Geschäftsbedarf. Und Mr. Takeda kannte jemanden, der dort arbeitet.

Iwata:

Mr. Takeda scheint ein unglaubliches Netzwerk an Beziehungen in der ganzen Welt zu haben! Man könnte also sagen, dass wir das wieder einmal der „Takeda-Connection“ zu verdanken haben? (lacht) In welcher Art von Technologie war Vidyo führend?

Watanabe:

Lassen Sie mir Ihnen das an einem einfachen Beispiel erklären: Kommt es während eines Videochats zu Netzwerkschwierigkeiten, so erhält man ein Bildschirmrauschen.77. Bildschirmrauschen: Eine Art von Komprimierung, die bei einem digitalen Video an der Stelle auftritt, an der das Bild verzerrt wirkt.

Iwata:

Ja, das stimmt. Je nach Auslastung des Internets kann nicht garantiert werden, mit welcher Geschwindigkeit Daten übertragen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit Fehler auftreten. Das Ergebnis hängt in dynamischer Weise von Faktoren wie der Anzahl der Leute ab, die gleichzeitig auf das Internet zugreifen. Stimmt also etwas mit der Verbindung nicht, ist diese möglicherweise überlastet, erhält mit der typischen Videokomprimierungstechnologie im Ergebnis ein Bildrauschen, und das Video wird unterbrochen.

Watanabe:

Mithilfe der Technologie von Vidyo, das heißt ihrer Kommunikationsmethode, kann der Verbindungsstatus in Echtzeit überwacht und das Signal automatisch an die optimale Bitrate angepasst werden. Demzufolge gibt es nur noch eine minimale Anzahl an Unterbrechungen. Bei einem Netzwerkproblem wird die Auflösung leicht verringert. Man kann sich jedoch trotzdem noch das Video ohne eine wirklich spürbare Veränderung ansehen. Meines Erachtens ist das eine große Errungenschaft.

Iwata:

Die Internetkommunikation vollzieht sich in einer instabilen Umgebung. Daher werden Daten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit empfangen und gesendet, und mitunter kann es vorkommen, dass ein Teil der Daten gar nicht empfangen wird. Mithilfe ihrer Technologie kann dies und ein damit zusammenhängender Ausfall unabhängig von der jeweiligen Situation vermieden werden.

Watanabe:

Ja. Innerhalb von Japan gab es einen Zuwachs in Gegenden mit guter Netzwerkverbindung. Daher bekommt man das nicht so sehr zu spüren. Im Ausland gibt es jedoch noch viele Gegenden mit älteren Leitungen. Dennoch kann man mit dieser Technologie eine gewisse Qualität der Videochats aufrechterhalten, selbst für jemanden, der sich in einer solchen Gegend befindet.

Iwata Asks
Iwata:

Das lässt mich hoffen, dass jeder Freundschaften im Ausland schließt und das ausprobiert!

Watanabe:

Außerdem haben wir sichergestellt, dass die Session nach dem Aufbau der Internetverbindung abgeschlossen werden kann, ohne erneut Kontakt mit dem Server aufzunehmen. Bei der Verwendung von P2P8-Verbindungen ist das Auftreten eines Systemfehlers unwahrscheinlicher, selbst wenn viele Leute auf der ganzen Welt gleichzeitig darauf zugreifen. 8. P2P-Verbindung: Eine Abkürzung für „Peer-to-Peer“-Kommunikation. Hierunter versteht man eine Form der Datenkommunikation, bei der die Terminals der Nutzer direkt miteinander verbunden werden und direkt kommunizieren, ohne dass die Kommunikation über einen Server läuft. Dabei gibt es Systeme, die vollkommen auf einer P2P-Verbindung basieren, bei denen die Initialisierung der Verbindung längere Zeit in Anspruch nimmt, und Supernodes, bei denen die Kommunikation von der Intervention eines dritten Rechners abhängt. Für Wii U Chat kommt eine hybride Form zur Anwendung, bei der die anfängliche Verbindung zwar über einen Server aufgebaut wird, die beiden Einheiten von da an aber direkt miteinander kommunizieren.

Iwata:

Ich verstehe. Andernfalls würden Gebühren für den Server anfallen, und wir könnten den Service nicht mehr kostenlos anbieten. Übrigens, Mr. Tamiya, kamen Sie nicht dann ins Spiel, als die technischen Grundlagen vorhanden waren?

Tamiya:

Ja, genau. Ich hatte eine Nachricht von Nintendo of America (NoA) bekommen, dass ein Team bei Next Level Games (NLG)9, mit denen wir enge Beziehungen unterhielten, eine Freileitung hätte. Sie fragten, ob wir irgendetwas damit anfangen könnten. Also beratschlagten wir: „Könnten wir nicht einen Videochat einbauen?” Und da die Idee bei diesem Projekt sinnvoll war, beschlossen wir, sie offiziell zu verfolgen.9. Next Level Games Inc.: Eine Entwicklungsgesellschaft für Videospiele mit Sitz in Vancouver, Kanada. In der Vergangenheit arbeitete die Gesellschaft an Spielen wie Super Mario Strikers (GC), Mario Strikers Charged (Wii) und Punch-Out!! (Wii). Zurzeit arbeitet NLG an Luigi's Mansion: Dark Moon für das Nintendo 3DS-System.

Iwata:

Mr. Tamiya, können Sie den Lesern dieses Interviews bitte kurz erläutern, was Sie davor gemacht haben?

Tamiya:

Vorher arbeitete ich an der Erstellung des Nintendo Zone Viewers10, einer Betrachtungssoftware für den Nintendo Zone-Service für den Nintendo 3DS. 10. Nintendo Zone Viewer: Software zur Nutzung der Nintendo Zone, einem Service, auf den weltweit mit dem Nintendo 3DS von bestimmten Orten aus zugegriffen werden kann.

Iwata:

Der Nintendo Zone Viewer wurde doch in Zusammenarbeit mit einer ausländischen Firma entwickelt, nicht wahr?

Tamiya:

Ja. Wir entwickelten ihn gemeinsam mit der Projektierungsabteilung, einer Abteilung von NOA.

Iwata:

Bei der Zusammenarbeit mit Leuten im Ausland stößt man doch immer wieder auf Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede. Hat das die Kommunikation erschwert?

Tamiya:

Das stimmt schon. Doch dieses Mal gab es im Team von NOA einen zweisprachigen Mitarbeiter, der zusammen mit uns an der technischen Programmierung des Nintendo Zone Viewer arbeitete. NOA unterstützte uns bei der Koordination. Das hat viel geholfen.

Iwata:

Dennoch mussten Sie sich von Zeit zu Zeit treffen, um Dinge von Angesicht zu Angesicht zu besprechen und festzulegen, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln sollte. Und dafür sind Sie einige Male dort hingefahren.

Tamiya:

Ich bin ungefähr alle drei Monate dort hingefahren. Ich musste dorthin fahren und eine gewisse Zeit dort bleiben, damit wir die Richtung besprechen konnten. Durch meine Reisen konnte sich das Projekt effizient entwickeln. Die Reisen halfen mir aber auch dabei, das ausländische Team mit seinen Eigenarten und Denkweisen zu verstehen. Dieses Wissen erleichterte mir meine Arbeit nach meiner Rückkehr nach Japan erheblich, als wir dann weiter per E-Mail und über Video-Konferenzen miteinander kommunizierten. Vielleicht übertreibe ich jetzt ein bisschen. Aber ich empfinde den Kontakt per E-Mail schon ganz anders als einen tatsächlichen Besuch vor Ort. Eine Videokonferenz sehe ich irgendwo dazwischen.

Iwata:

Nun, das beschreibt doch genau das Mehrabian-Gesetz, über das wir bei Iwata fragt: Miiverse: Die Entwickler gesprochen haben. Nur mithilfe von Worten, wie beispielsweise in E-Mails, lassen sich Emotionen nur schwer vermitteln. In dieser Hinsicht lässt sich mit einem Bildtelefon viel mehr vermitteln als bei einem Telefongespräch oder per E-Mail, obwohl man sich auch hier nicht tatsächlich begegnet. Mr. Tamiya, Sie fuhren also mit der Entwicklung fort und haben dies am eigenen Leib gespürt?

Tamiya:

Ja. Erst durch meine Arbeit an diesem Projekt ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu kommunizieren.

Iwata:

Hinzu kam, dass der Direktor dieses Projekts ein Japaner war, während das Team mehrheitlich aus dem Ausland stammte. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich das Projekt also von unserer üblichen Vorgehensweise: Die ausländische Version entstand vor der japanischen. Und wir lokalisierten die ausländische Version für Japan.

Tamiya:

Ja. Eine Tochtergesellschaft in der Nähe von NoA namens NST (Nintendo Software Technology)11 arbeitete mit uns zusammen, um die englische Version zu einer japanischen Version zu lokalisieren. 11. NST (Nintendo Software Technology): Eine Tochtergesellschaft von Nintendo mit Sitz im Bundesstaat Washington.

Iwata:

Früher übernahmen immer Abteilungen innerhalb von Nintendo Japan mehrheitlich die Entwicklungsarbeit, wenn Software und Hardware gleichzeitig entwickelt wurden. Doch dank der Erfahrung von Mr. Tamiya sind wir nun in der Lage, mit einer Vielzahl externer Teams in Bereichen zusammenzuarbeiten, die vorher den internen Teams vorbehalten waren. Übrigens Mr. Watanabe, ist es Ihnen gelungen, die Technik von Vidyo problemlos in die Wii U zu integrieren?

Watanabe:

Nein, das hat schon etwas Mühe erfordert. Die Software war in verschiedenen Ebenen strukturiert. Daher konnte sie leicht in die Wii U-Programmbibliothek eingebaut werden. Doch obwohl Vidyo über weitreichende Erfahrungen auf dem Gebiet der Computer verfügte, so war dies auch für sie die erste Gelegenheit, ihre geschäftsorientierte Technologie auf eine Videospielkonsole anzuwenden.

Iwata:

Spielekonsolen verfügen nicht über die gleiche Palette an Funktionen und Bibliotheken, die beim OS12 auf einem Computer-Standard sind. Das ist es, was den Aufbau eines „eingebetteten Systems“13 so reizvoll macht.12. OS: Kurz für „Betriebssystem“ (‘Operating System’), die Software, die das gesamte Betriebssystem, steuert.13. Eingebettetes System: Ein ursprünglich zur Ausübung spezifischer Funktionen konzipiertes Computersystem. Im Vergleich zum generischen System eines PCs müssen diese Systeme zur Verwendung mit der Hardware von Videospielen eigens für diese Hardware gebaut werden.

Watanabe:

Das stimmt, insbesondere weil in den Anfangsphasen des Projekts Dinge wie das Wii U-OS und die Netzwerk-Funktionalitäten noch nicht in trockenen Tüchern waren. Zu Beginn des Jahres unterstützte uns Silicon Studio14 in Tokio bei der Optimierung der beweglichen Teile. Dank dieser Unterstützung ist es uns irgendwie gelungen, den vorgesehenen Termin zu halten. 14. Silicon Studio: Ein japanischer Entwickler, der sich hauptsächlich mit der Entwicklung der Middleware für den Spielinhalt beschäftigt. Das Unternehmen wurde 2000 gegründet.

Iwata:

Ich bin davon überzeugt, dass Sie entweder viel länger gebraucht hätten oder aber die Software nicht hätten intern entwickeln können, hätten Sie all diese Aufgaben selbst übernommen. Bei diesem Projekt kamen Ihnen also wirklich Ihre Beziehungen aus der Vergangenheit sowie auch zufällige Begegnungen zugute.